5 Grundsätze für eine dialogische Entscheidungsfindung

“Zwischen Stimulus und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegt unser Wachstum und unsere Freiheit” (Stephen Covey).

Diese Grundsätze sind die Quintessenz aus einigen Erkenntnissen, die wir Prozessen gezogen haben, die den Dialog als Mittel zur Bewältigung von Spannungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Problemen benutzt haben. Die Verwendung des Wortes “dialogisch” ist ein bewusster Versuch, von der Vorstellung des Dialogs als einer Momentaufnahme oder eines einzelnen Ereignisses wegzukommen. Es gibt nämlich eine dialogische Denkweise, die der Suche nach neuen Wegen der Politikgestaltung zugrunde liegt. Sie ist schwer zu beschreiben, enthält aber bestimmte Schlüsselelemente. Die hier beschriebenen Grundsätze sind ein Versuch, die dialogische Denkweise besser zu verstehen. Denn diese liegt den dialogischen Kompetenzen zugrunde, die in dieser Sammlung von Gestaltungselementen oder -mustern vorgestellt werden.

Der Raum zwischen dem, was wir beobachten, und dem, was wir uns entscheiden zu tun, steht im Mittelpunkt des Dialogs. In diesem Raum liegt die Macht zu entscheiden, wie wir auf eine Herausforderung, ein Problem oder eine Krise reagieren wollen. Gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen sind da keine Ausnahme. Dies ist der Raum, in dem entweder einige die Macht für sich beanspruchen oder in dem sie geteilt wird.

Bei unseren alltäglichen Entscheidungen nehmen wir uns nur selten die Zeit, über unsere Entscheidungen nachzudenken. Wir scheinen auf Autopilot zu laufen und treffen Entscheidungen auf der Grundlage einer gewohnten Denkweise oder unserer momentanen Gefühle. Das Gleiche gilt für Entscheidungen im politischen Bereich. Der Raum, in dem Entscheidungen getroffen werden, wird oft von denjenigen geprägt, die Macht haben und diese erhalten wollen. Sie machen die Regeln. Sie bestimmen, wer das Recht hat, sich zu äußern, und wer ausgeschlossen wird. In unserem derzeitigen politischen System ist dieser Raum so gestaltet, dass diejenigen, die von Entscheidungen betroffen sind, nur selten einbezogen werden.

Wenn wir dieses von Ausgrenzung geprägte System ändern wollen, müssen wir überlegen, was es enthalten muss, damit es integrativer wird. Hier sind einige Grundsätze, die dazu beitragen, diesen Raum anders zu gestalten – einen Raum, in dem bessere Entscheidungen getroffen werden, weil mehr Stimmen gehört und ernst genommen werden.

 

#Nr. 1 – Verflechtung und wechselseitige Verbundenheit

Der dialogische Weg geht davon voraus, dass wir Menschen miteinander verbunden sind und dass wir in einem vernetzten Universum leben. Die Gesellschaft ist ein lebendiges System, genau wie das Ökosystem, in dem wir leben.

Die Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Gruppen oder Netzen, in denen sie sich organisieren, sind entscheidend. Wenn diese Beziehungen von Offenheit, Vertrauen, Respekt und Klarheit geprägt sind, wird die Qualität der Kommunikation in einem System gut sein. Wenn die Kommunikation im Fluss ist, nehmen die Spannungen ab. Die Menschen sind vielleicht nicht alle einer Meinung, aber es herrscht ein offener Kommunikationsfluss zwischen ihnen, der Spannungen und das Risiko eines destruktiven Konflikts verringert. Wenn dieser Fluss aufhört, werden die Menschen einander gegenüber misstrauisch, sehen sich als Gegner und schließlich als Feinde.

Die Gesellschaft ist ein großes anpassungsfähiges, lebendes System. In ihr gibt es kleinere Systeme, Gemeinschaften, Familien, Städte und Nachbarschaften. Wir selbst sind komplexe lebende Systeme. Jedes dieser Systeme wirkt stetig in einer dynamischen Weise auf andere Systeme ein. Auch wenn diese Systeme sehr unterschiedlich sind, haben sie bestimmte Eigenschaften gemeinsam. Eine Gruppe, die einen grundlegenden Wandel in ihrer Denkweise vollzieht, wirkt sich auf die Menschen aus, die dieser Gruppe angehören, und hat gleichzeitig Auswirkungen auf die Netzwerke oder die Gesellschaft, in der sie sich selbst befindet. Wenn immer mehr Einzelpersonen und Gruppen in einem anderen Verhältnis zueinander und zur Welt stehen, führt dies zu Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene. Dieser Wandel kann positiv oder negativ sein, je nachdem, welche Verschiebungen auftreten.

Wenn Europa vom Krieg betroffen ist, werden die Menschen ängstlicher und misstrauischer gegenüber denen, die sie als “den Feind” betrachten. Einzelpersonen werden vorsichtiger, ebenso wie Gruppen und sogar ganze Länder. Menschen, die bisher gegen Gewalt waren, sind plötzlich für militärische Interventionen.  

In ähnlicher Weise verbreiten sich Veränderungen in der Art und Weise, wie Frauen in der Gesellschaft angesehen werden, und werden zur Norm. Wenn Frauen auf einer Ebene als gleichberechtigt anerkannt werden, ändern sich die Einstellungen auf anderen Ebenen. Dies geschieht vielleicht nicht sofort, aber der Wandel findet trotzdem statt. 

All dies liegt daran, dass die Gesellschaft ein zusammenhängendes Ganzes ist. Alle Versuche, Teile des Ganzen auszuschließen, zu ignorieren oder zu diskriminieren, führen zu Spannungen.

 

 #Nr. 2 – Inklusion

Inklusion ist der Schlüssel, um sowohl der Marginalisierung als auch der Fragmentierung, den Hauptgründen für die Entstehung von Konflikten, entgegenzuwirken. Bei der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme ist die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven und der Menschen, die diese Perspektiven vertreten, von wesentlicher Bedeutung. Gleichzeitig ist es wichtig, alle Aspekte des Menschen, seine Gedanken, Ideen, Gefühle, Werte und seine Identität einzubeziehen. Werden diese nicht berücksichtigt, besteht bei den daraus resultierenden Entscheidungen die Gefahr, dass Gruppen oder Einzelpersonen ausgegrenzt werden. Die Zersplitterung, die wir heute in der Gesellschaft beobachten, ist eine Folge der Marginalisierung, die aus unzureichenden Entscheidungsprozessen und schlechten Entscheidungen resultiert. 

Die Einbeziehung des gesamten Spektrums menschlicher Erfahrung bedeutet, dass Entscheidungsprozesse nicht nur auf die Vernunft beschränkt sind. Viele Entscheidungsprozesse stützen sich heute auf Expertenanalysen und rationale Argumente. Ironischerweise scheint die Forschung selbst zu dem Schluss zu kommen, dass die meisten Entscheidungen gleichwohl auf einer nicht-rationalen Grundlage getroffen werden. Rationale Argumente werden einfach dazu benutzt, um Entscheidungen zu rechtfertigen, die tatsächlich von Emotionen, Werten und tieferen ideologischen oder religiösen Überzeugungen beeinflusst sind. 

Die Einbeziehung verschiedener Stimmen (Perspektiven, Interessengruppen) erfordert, dass die Entscheidungsträger zuhören und sich von anderen beeinflussen lassen. Dies bedeutet, dass sie ihre Macht mit anderen teilen (siehe Grundsatz Nr. 3). 

 

#3 – Macht teilen

Ohne die Bereitschaft, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen, können diejenigen, die die Macht haben, nicht legitimerweise behaupten, dass sie mit jenen anderen Akteuren zusammenarbeiten oder sie einbeziehen wollen. Die Menschen durchschauen kosmetische Versuche der Öffentlichkeitsbeteiligung, der Bürgerbeteiligung und der partizipativen Entscheidungsfindung zunehmend. Solange sich die Machthabenden/Amtsinhaber darauf beschränken, die von ihren Entscheidungen Betroffenen lediglich zu konsultieren, wird das Misstrauen wachsen. Leider wird die Idee der Partizipation selbst dazu benutzt, Entscheidungen zu legitimieren, die letztlich doch von einigen wenigen getroffen werden.

Die Strukturen, die geschaffen wurden, um zu gewährleisten, dass die Macht in den Händen einer Gruppe liegt, sind selbst ein Hindernis für eine echte Beteiligung und Teilung der Macht. Es gibt Ausnahmen. In einigen Kommunal- und Regionalverwaltungen haben sich Einzelpersonen für die Teilung der Entscheidungsbefugnis geöffnet. Oft sind sie mit denjenigen konfrontiert, die das derzeitige System beibehalten wollen. Sie sind dann häufig gezwungen, aufzugeben. 

Mit der Teilung der Macht kommt jedoch auch die Verantwortung. Diejenigen, die darauf bestehen, sich Gehör zu verschaffen und an der gemeinsamen Entscheidungsfindung teilzunehmen, müssen individuell Verantwortung übernehmen, wenn Vereinbarungen getroffen werden. Und sie müssen kollektiv Verantwortung übernehmen, wenn Entscheidungen getroffen werden, die zu gemeinsamen Maßnahmen führen. Auch hier haben die derzeitigen Systeme eine Kultur der Projektion und der Vermeidung von Verantwortung hervorgebracht. Die Menschen drängen auf Veränderungen und verlangen im gleichen Atemzug, dass andere die Verantwortung für diese Veränderungen übernehmen. Damit bestätigen sie lediglich ein System, das auf der Vorstellung beruht, dass irgendeine mächtige Gruppe die Verantwortung trägt. Dies ist ein System des Social Engineering, das auf “Planung für” statt “Planung mit” beruht. 

 

#Nr. 4 – Raum schaffen

Entscheidungen werden als Reaktion auf Chancen, Anforderungen, neue Herausforderungen, auftretende Probleme und Krisen getroffen. Viele, wenn nicht die meisten dieser Entscheidungen werden auf der Grundlage von Emotionen getroffen. Viele der politischen Entscheidungen und der kleineren Entscheidungen, die ihnen vorausgehen, werden jedoch als Ergebnis von Vernunft und Analyse angesehen. Die beliebte “evidenzbasierte” Entscheidungsfindung wird immer wieder angepriesen als “die” Art und Weise, wie wir arbeiten. 

Entscheidungen sind Reaktionen auf Situationen, die sich ergeben. Zwischen der entstandenen Situation (dem Impuls) und der Reaktion liegt ein Raum. Manchmal ist dieser Raum winzig klein, fast nicht existent. Dieser Raum gibt uns die Macht zu wählen. Wie er gestaltet und gehalten wird, bestimmt die Qualität der Reaktion. Die Gestaltung dieses Raums ist die Essenz des dialogischen Weges.

Eine dialogische Denk- und Handlungsweise bringt diesen Raum ins Bewusstsein. Sie öffnet den Raum zwischen Stimulus und Reaktion und ermöglicht es uns, unser Verständnis dessen, was auf dem Spiel steht, zu erforschen, zu erweitern und zu vertiefen. In diesem Raum bestimmen wir, was das Problem ist, das wir angehen wollen. In diesem Raum versuchen wir, die Ursachen und Auswirkungen dieses Problems zu verstehen und zu begreifen, inwieweit Strukturen das Problem schaffen und aufrechterhalten. Wir erlauben uns, Gedanken, Ideen, Gefühle, Werte und Überzeugungen zu erforschen. Und wenn wir das tun und anfangen, mehr zu sehen, tauchen Alternativen auf. Diese Alternativen sind das Potenzial, das uns die Situation bietet und das wir übersehen, wenn wir den Raum übersehen oder schnell übergehen.

Bei komplexeren Problemen bietet uns dieser Raum die Möglichkeit, andere Perspektiven und verleugnete Teile von uns selbst und unseren Gemeinschaften einzubeziehen. Dieser Raum bietet uns die Möglichkeit, die Geschichten anzuhören, die die Menschen zu erzählen haben, Geschichten, die sie ermächtigen, Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist ein Raum, den diejenigen, die an der Macht bleiben wollen, verzweifelt zu kontrollieren versuchen.

Der dialogische Weg schafft Raum und hält Raum für andere. Er schlägt auch vor, dass der und die  einzelne Raum für sich selbst schafft und erhält. Man könnte auch sagen, dass der Dialog ein kontinuierlicher Prozess ist, in dem sichere Räume geschaffen werden, in denen die Menschen sagen können, was sie zu sagen haben, in denen jeder einzelne Verantwortung übernehmen kann und in denen Gruppen Zugang zu ihrer kollektiven Weisheit haben.

 

#Nr. 5 – Emergenz

Jede Herausforderung, jedes Problem und jeder Konflikt ist ein Zeichen dafür, dass sich ein System ändern muss. Es ist die Art und Weise, wie das System sagt, dass eine Veränderung notwendig ist. Wenn diese Signale ignoriert werden, werden sie sich wieder zeigen, nur mit mehr Energie und Wucht.

Der dialogische Weg bedeutet nicht nur, ein Problem besser zu verstehen. Eng verbunden mit dieser Phase des Äusserns ist die Phase der Emergenz. In dieser Phase verlagert sich die Aufmerksamkeit auf die Suche nach Verbindungen und die Identifizierung von Potenzialen. Dies kann bereits geschehen, wenn das Problem einfach besser verstanden wird.

Diese Phase, in der das Potenzial zur Entfaltung kommt, erfordert eine Änderung der Denkweise. Es ist der Wechsel von der Frage “Was ist wirklich los?” zur Frage “Was ist angesichts der gegebenen Rahmenbedingungen möglich?” Es ist eine Phase der Erkundung von Verbindungen zwischen Menschen und zwischen Gruppen. Jetzt muss man sich auch die Frage stellen: Welche Verantwortung kann jeder einzelne übernehmen und wofür kann eine Gruppe gemeinsam Verantwortung übernehmen?